Alles dreht sich um die Palme
Während die einen noch den ein oder anderen verpassten Film nachsichten und die anderen, lärmende Rollkoffer nach sich ziehend, die Stadt verlassen, gibt es unter den Zurückgebliebenen nur noch ein Thema: Wer kriegt sie nun, die Goldene Palme, und wer verfügt über genug Insider-Wissen, um sie brauchbar vorherzusagen. Wie (fast) immer gehen die Meinungen auseinander.
Seine Fans hat auch Alice Rohrwachers Coming-of-age-unter-Imkern-Drama Le meraviglie, ein wenig auch, weil man von der Jane-Campion-geführten Jury dann doch erwartet, dass in irgendeiner Weise die Männerdominanz gebrochen wird. Le meraviglie ist für die Goldene Palme vielleicht zu "klein", aber ein würdiger Kandidat sowohl für Regie- als auch für andere Nebenpreise.
Und dann wäre da noch Godard: Wird sich die Jury verpflichtet fühlen, die letzte Gelegenheit zu nutzen, der Kinolegende doch noch einen Cannes-Preis hinterherzuwerfen? Im Protokoll-hörigen Cannes halten das viele für sehr, sehr wahrscheinlich, egal ob sie nun die Offenbarung in Adieu au langage erblickten oder dann doch nur eine seiernde Schnipselmontage in einem schrecklichen, schielend machenden 3D-Format.
Da das Regelwerk in Cannes zu Aufteilung der Preise zwingt, sind die Schauspielerauszeichnungen schwerer zu prognostizieren. Sollte Mommy nicht die Goldene Palme bekommen, sondern nur Drehbuch oder so, dann müsste – meine beiden Daumen sind fest gedrückt – Anne Dorval ausgezeichnet werden. Die angelsächsischen Kritiker bevorzugen allerdings Marion Cotillard in Deux jours, une nuit. Und dann gäbe es da noch Julianne Moore im Cronenberg-Film Maps to the Stars – bestrickend borderline-verrückt, abstoßend-übergiffig, buchstäblich mit "na-na-hey-hey-jo" auf dem Grab eines kleinen Jungen tanzend. Ein Preis für Moore ginge in Ordnung.
Bei den Männern ist das Feld in diesem Jahr nicht sehr dicht. Wie gesagt, Timothy Spall, das aber in erster Linie, weil man nicht denkt, dass Mr Turner sonst noch was gewinnt. Und dann gibt es da noch Steve Carell, Mark Buffalo und Channing Tatum, die in Foxcatcher alle einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, besonders Carell als vollkommen gestörter Millionärserbe, der sich in selbst geschriebenen Reden in unvergesslicher Weise als "ornithologist, philatelist, philanthropist" rühmen lässt. Und, sollte Ceylans Winter Sleep den Fluch des frühen Favoriten ereilen, der zu schnell reif wird, und leer ausgehen, dann könnte Halik Bilginer in dieser Kategorie vielleicht doch noch triumphieren. Als emeritierter Schauspieler, der im geerbten Luxushotel im schönen Kappadokien den wohlmeinenden Gutsbesitzer mimt, während er gleichzeitig die eigene Frau, die Schwester, Mieter, Hotelgäste und alte Freunde nervt und tyrannisiert, ist Bilginer auf sehr leise, an Schattierungen sehr reiche Weise ein echtes Erlebnis.
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